"goEast"_Heleen Gerritsen im Caligari 2018 (c) Angelika Stehle

"Der Film ist schon prophetisch": Heleen Gerritsen über den ukrainisch-türkischen Spielfilm "Klondike"

Im Interview mit 3sat betont "goEast"-Festivalleiterin Heleen Gerritsen die besondere Bedeutung von Maryna Er Gorbachs Drama für die westliche Perspektive auf den Ukraine-Krieg

Vom 26. April bis zum 2. Mai 2023 läuft in Wiesbaden die diesjährige Ausgabe des goEast-Filmfestivals, das zum 23. Mal den Blick auf das Filmschaffen in Mittel- und Osteuropa richtet. 3sat zeigt aus diesem Anlass am Samstag, 22. April 2023, 22.45 Uhr das Drama "Klondike" von Maryna Er Gorbach in deutscher Free-TV-Premiere. Der ukrainisch-türkische Spielfilm war im vergangenen Jahr Teil des Festival-Programms und wurde von 3sat zur Ausstrahlung ausgewählt. goEast-Leiterin Heleen Gerritsen sprach mit 3sat über den mehrfach preisgekrönten Film und seine beklemmende Aktualität.

Interview

"Klondike" erzählt von einer bevorstehenden Geburt, aber letztlich auch von der Geburtsstunde des gegenwärtigen russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Mittlerweile wurde das im Film geschilderte Schreckensszenario von der Gegenwart eingeholt. Trotzdem: Was macht die besondere Bedeutung des Films heute aus?

Heleen Gerritsen: Es freut mich sehr, dass 3sat sich im vergangenen Jahr für diesen Film entschieden hat, denn ich glaube, dass es wirklich ein sehr wichtiges Werk ist. Da ich in den Niederlanden aufgewachsen bin, spielt für mich der Flug von Malaysia Airlines MH370, der ja in "Klondike" thematisiert wird, auch persönlich eine Rolle. In den Niederlanden gibt es nämlich nur wenige, die nicht davon berührt wurden. Auch ich kenne tatsächlich Menschen, die in diesem Flugzeug saßen. Insofern geht mir schon allein dieses Thema sehr nahe. Aber natürlich gilt das auch für die Ukraine überhaupt. Darüber hinaus finde ich die weibliche Perspektive, die Maryna Er Gorbach für ihren Film gewählt hat, ebenfalls sehr besonders. Und dann ist da auch die Bildgestaltung. Enorm beeindruckend ist natürlich dieses absurde Bild von der Hauswand, die auf einmal weg ist. Die Protagonisten leben dann mit dieser fehlenden Wand einfach weiter. Dadurch können sie den Kriegsschauplatz auf einmal wortwörtlich vom Sofa aus beobachten. Es passieren zunehmend wirklich schlimme Dinge. Und in dieser Situation ist die Hauptfigur Irka trotzdem fest entschlossen, zu bleiben und ihr Familienleben hier zu verankern. Sie will ihr Kind unbedingt zu Hause bekommen. Diese weibliche Perspektive des Films macht auch seine Stärke aus.

 

Was die Zuschauerinnen und Zuschauer zu sehen bekommen, ist aber auch das im Westen nahezu unbekannte Land: diese ungeheure, irgendwie schon episch wirkende Weite. Das scheint auch ein Grund für den an einen Western erinnernden Titel des Films zu sein, oder?

Heleen Gerritsen: Genau. Im Western kann es beispielsweise um die Jagd nach Gold oder nach etwas anderem gehen. "Klondike" spielt in der Region Donezk. Das ist eine traditionelle Industrieregion, die für die Rohstoffe auch wahnsinnig wichtig ist. Die Ukraine war darüber hinaus auch ein Agrarland, was für die Sowjetunion wirtschaftlich gesehen große Bedeutung hatte. Und dann gibt es ja noch den Zugang zum Meer. Diese Verluste haben Russland auf jeden Fall weh getan, als die Sowjetunion auseinandergefallen ist.

 

"Klondike" wurde 2022 von 3sat ausgewählt. Ein Jahr später gibt es den Krieg immer noch. Das, was der Film zeigt, wirkt wie eine Art Prequel zum russischen Angriff vom 24. Februar 2022.

Heleen Gerritsen: Der Film ist schon prophetisch, ja.

 

Am 22. April ist das Ausstrahlungsdatum bei 3sat. Welche Bedeutung hat es für Sie, dass dieser Film gerade jetzt im deutschen Fernsehen läuft?

Heleen Gerritsen: Ich finde, es ist ein sehr wichtiges Signal. "Klondike" ist nicht zuletzt auch eine kleine Vorschau auf das, was das Publikum bei goEast 2023 erwartet. Wenn dieser Film jetzt im Fernsehen ausgestrahlt wird, dann ist das vor allem aber eine Erinnerung daran, dass es diesen Krieg schon seit 2014 gibt und dass das, was gerade in der Ukraine passiert, uns näher ist, als wir manchmal denken – und dass es letztlich jeden von uns betreffen kann. "Klondike" erinnert darüber hinaus noch mal vor allem an die besondere Rolle von Frauen im Krieg.

Ich denke, dieser Film ist natürlich auch sehr wichtig für Menschen, die die Ukraine bislang nicht kannten. Wenn man schon mal vor Ort war, mit UkrainerInnen befreundet ist oder sogar Verwandte dort hat, dann nimmt man das Geschehen natürlich ganz anders wahr als jemand, der keinerlei Verbindungen zu dem Land hat. Für alle, die diesen Film sehen, ist er aber auch eine hervorragende Möglichkeit, gegenüber den Menschen in der Ukraine Empathie zu empfinden. Wobei ich finde, dass die Situation in "Klondike" vor allem gegen Ende hin schon so absurd ist, dass man da kaum noch von Empathie sprechen kann, sondern nur noch von Entsetzen.

 

Durch den Spielfilm "Klondike" rückt der Ukraine-Krieg entsetzlich nahe. Die Situation wird deutlich leichter greifbar, als das durch rein nachrichtliche Berichterstattung möglich wäre. Man versteht die Menschen einfach besser.

Heleen Gerritsen: Das ist auf jeden Fall etwas, was die Filmkunst natürlich kann: Situationen vermitteln, die sonst wirklich undenkbar wären. "Klondike" zeigt insofern auch, wie wichtig hier unsere Partnerschaft mit 3sat ist. Dieses Angebot, einen Wettbewerbsfilm dadurch auszuzeichnen, dass er ins Fernsehen kommt, finde ich toll. Die ProduzentInnen sind natürlich nicht gezwungen, dieses Angebot anzunehmen, aber es ist auf jeden Fall immer ein ernstzunehmendes Angebot und das sorgt dann dafür, dass osteuropäisches Kino auch ins Fernsehen kommt und somit die Chance hat, von einem größeren Publikum gesehen zu werden. Ich halte das für eine schöne symbolische Verbindung. Außerdem ist es wirklich eine sehr gute Unterstützung für die Filmschaffenden. Viele der Filme, die bei goEast laufen, werden unabhängig produziert. Da ist eine Fernsehausstrahlung auf jeden Fall eine sehr tolle mediale Unterstützung. Insgesamt betrachtet, ist diese Unterstützung für Festivals wie das unsere mit bescheidenem Marketing-Budget natürlich sehr, sehr wichtig.

 

Wenn man im Westen über Osteuropa redet, und das zeigt sich ja auch bei "Klondike", wird es oft dramatisch, ernst und schwer. Gibt es beim goEast Festival denn auch Komödien?

Heleen Gerritsen: Aber ja doch. Einige davon haben es sogar in unseren Wettbewerb geschafft. Das Problem mit dem Humor ist nur, dass er sehr kulturell bedingt ist. Humor lässt sich nicht immer leicht übertragen. In jedem Fall bilden in diesem Jahr ungarische und estnische Animationsfilme aus den 70er- und 80er-Jahren einen Schwerpunkt. Da sind tatsächlich auch urkomische Sachen dabei, aber auch sehr viele psychedelische Beiträge. Wir haben uns ganz bewusst dazu entschieden, solche Filme zu zeigen. Sie sorgen für ein wohltuendes und abwechslungsreiches Kontrastprogramm zu den wirklich ernsten Themen. Ohne Humor geht es nun mal auch 2023 nicht.

 

Fotos zu "Klondike" finden Sie hier.

Hauptabteilung Kommunikation

Claudia Hustedt
hustedt.cwhatever@zdf.de
Mainz, 28. März 2023