Die Filmemacherin Heidi Specogna © ZDF und Anne Morgenstern

Director’s Statement von Heidi Specogna zu "Erhebe dich, du Schöne"

Dokumentarfilm, Deutschland 2021, 110 Minuten

Anmerkungen der Regisseurin und Drehbuchautorin Heidi Specogna

Im Mittelpunkt des Films steht Nardos Wude Tesfaw, eine junge Sängerin aus Addis Abeba. In ständiger Reibung mit Alltagsproblemen, familiären Verpflichtungen und strenger Tradition möchte sie sich als eigenständige Künstlerin verwirklichen. Wie in meinen bisherigen Filmen nimmt "Stand up my Beauty" einen Gedanken, einen losen Faden oder eine unbeantwortet gebliebene Frage aus dem vorangegangenen Werk zum Ausgangspunkt der neuen Filmreise. Aus "cahier africain" habe ich die Kraft und innere Freiheit getragen, mit der sich die Hauptprotagonistin zum Schluss des Films offenbart: Eine junge afrikanische Frau hat sich trotz Krieg und Trauma eine eigene Vision ihrer Zukunft bewahrt. Diesen Staffelstab nimmt Nardos in "Stand up my Beauty" auf. Die Entstehung ihres ersten eigenen Liedes, erzählt mit den Stilmitteln eines dokumentarischen Musicals – mit diesem Faden in der Hand beginnt eine über sechs Jahre dauernde Filmreise …

3satDokumentarfilmzeit
Interview

Zu Beginn der Arbeit beschäftigte uns vor allem die Frage der filmischen Haltung. Wie nähert man sich einer fremden Stadt im Umbruch? Addis Abeba, das seine Gestalt bereits während der äußeren Betrachtung quecksilbrig verformt und sich wie eine Krake auszubreiten scheint und dabei rücksichtslos soziale Realitäten schafft. Während der mehrjährigen Recherche- und Drehzeit zu "Stand up my Beauty" gibt es ein wiederkehrendes Ritual, uns der Stadt anzunähern: mit dem Kameramann Johann Feindt suchen wir die immer gleichen sieben Plätze und Kreuzungen auf, richten die Kamera an derselben Position ein und halten in gleicher Brennweite fest, welche Veränderungen sich aus diesem Blickwinkel heraus in der Stadtlandschaft beobachten lassen. Frischer Beton, der sich über altes Gemäuer stülpt, ein Wald, der über Nacht abgeholzt worden ist, Häuser und Hütten, die sich in Staub aufgelöst haben und über denen die Frage schwebt: Wohin sind ihre ehemaligen Bewohner verschwunden?

 

Später, am Schneidetisch montiert der Editor Kaya Inan aus diesem Material die Sequenzen, die wir "Lauf der Zeit" nennen – eine Montage aus Überblendungen, die "Zeit" in verschiedenen Dimensionen sichtbar macht: die Beobachtung einer alten, gebückten Frau, die mit über Jahrzehnte eingeübten Handgriffen ein schweres Bündel Reisig auf ihren Rücken wuchtet. Bäume, die eben gerade gefällt, sich nun an als biegsame Baugerüste an chinesischen Wolkenkratzern hochziehen. Gähnende Brachlandschaften, die fragile Flüchtlingsunterkünfte aus Holz und Planen verschluckt haben. Eine Schlange junger Arbeitssuchende, die sich im Moloch Addis Abeba verflüchtigt – wohin bleibt offen. Im weiteren Arbeitsprozess kreiert der Filmmusiker Hans Koch zu diesen Bildmontagen eine musikalische Haltung: Seine Klarinette stromert durch die von harten Gegensätzen zerklüftete Stadtlandschaft und setzt sich in Dialog mit dabei eingefangenen Tönen und zugeflogenen Geräuschen. Der dabei entstehende, durch virtuoses Sounddesign unterstützte atmosphärische Klangteppich, durchwirkt die ineinander geschichteten Bildmontagen und verleiht ihnen eine eigene Stimme. Die dokumentarische Begleitung der Entstehungsgeschichte Nardos‘ ersten eigenen Liedes webt sich in diese Montagestruktur und wird zum roten Faden des Films.

 

"Ich habe einen großen Traum", sagt Nardos Wude Tesfaw, die Hauptprotagonistin zu Beginn des Films. Die Sängerin träumt davon, eigene Lieder zu schreiben und vorzutragen – Lieder, welche den Lebensrealitäten äthiopischer Frauen Gehör verschaffen. Nardos sammelt Fragen und begibt sich damit auf eine Reise. Zeile für Zeile schreiben sich die Alltagsbegegnungen mit Frauen und Mädchen in ihre erste eigene Komposition ein. Nardos ist eine gute Zuhörerin und die Gesprächspartnerinnen vertrauen und erzählen ihr bereitwillig - auch wenn die Themen schwer wiegen. Im Laufe des Films entstehen so die Fragmente eines Liedes, das zu Unabhängigkeit und Selbstbestimmung aufruft und Mädchen und Frauen auffordert, sich der sie benachteiligenden Tradition selbstbewusst in den Weg zu stellen. Nardos verleiht ihrem ersten Lied den Titel: "Stand up my Beauty".

 

Heidi Specogna wurde in Biel/Bienne in der Schweiz geboren, sie studierte Journalismus in Zürich und Filmregie an der Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin. Seit 2003 ist sie Dozentin für Dokumentarfilm an der Filmakademie Ludwigsburg. Zu ihren zahlreichen Auszeichnungen zählen die Grimme-Preise 2008 und 2018, der Deutsche Filmpreis 2016 und der Konrad-Wolf-Preis der Akademie der Künste, Berlin 2019.

Hauptabteilung Kommunikation
Programmkommunikation

Claudia Hustedt
hustedt.cwhatever@zdf.de
Mainz, 31. Mai 2023