
Gert Scobel: "Es gibt keine einfachen Tatsachen"
Ein Essay von Gert Scobel über wissenschaftliche Evidenz
"Wissenschaft und Wahrheit" ist das Thema in der Ausgabe von "scobel" am Donnerstag, 11. April, 21.00 Uhr. Hier schreibt Moderator Gert Scobel, was es mit der Wahrheitsfindung in den Naturwissenschaften auf sich hat. Denn auch wenn man meinen könnte, dass in den Wissenschaften so klar wie nirgendwo sonst festgestellt werden kann, welche Aussagen wahr sind und welche nicht, verhält es sich in tatsächlich anders.
Alle Sendetermine im Überblick
20.15 Uhr
Die Weltvermesser
Dokumentation von Christoph Gerisch (44 Min)
Erstausstrahlung
Forscher vermessen weltweit unseren Planeten so genau wie möglich. Mit Hightech-Instrumenten erfassen sie jeden Winkel der Erdoberfläche aus dem All, aber auch den Meeresgrund der Tiefsee. Seit jeher haben die Menschen versucht, sich auf der Erde zu orientieren: Anfangs nutzten sie die Sterne zur Navigation, heute geben Satelliten Orientierung. Und zu allen Zeiten strebten Wissenschaftler nach exakten Daten. Bis zum heutigen Tag ist die Vermessung der Erde in vollem Gange. Damals wie heute gilt: Wissen ist Macht. Wer exakte Daten über die Erde besitzt, hat einen großen Vorteil. Die Dokumentation begleitet aktuelle Expeditionen und gibt in Rückblicken Einblicke darüber, wie früh herausragende Gelehrte sich schon ein sehr genaues Bild der Erde machten.
21.00 Uhr
scobel: Wissenschaft und Wahrheit
Wissenstalk mit Gert Scobel und Gästen (60 Min)
Erstausstrahlung
Eigentlich sollte es gerade in der Wissenschaft einfach sein, Tatsachen festzustellen. Doch ganz so einfach ist es nicht. Gert Scobel diskutiert mit seinen Gästen wissenschaftliche Evidenz.
In 3sat steht der Donnerstagabend im Zeichen der Wissenschaft: Um jeweils 20.15 Uhr beleuchtet eine Dokumentation relevante Fragen aus Natur- und Geisteswissenschaften, Kultur und Technik. Im Anschluss, um 21.00 Uhr, diskutiert Gert Scobel mit seinen Gästen zum Thema.
Eigentlich sollte man meinen, dass in den Wissenschaften so klar wie nirgends sonst festgestellt werden kann, welche Aussagen wahr sind und welche nicht. Tatsächlich verhält es sich anders. Denn auch in den Wissenschaften gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Problemen mit der Wahrheit, von denen bewusstes Lügen und Betrügen nur eines ist. Gerade in den letzten Jahren wurden eine Reihe von zum Teil frei erfundenen oder frisierten Studien als Fälschungen entlarvt. Einige dieser Skandale listet die Wikipedia-Seite "Betrug und Fälschung in der Wissenschaft" auf. Selbst wenn Lüge und Betrug und damit "Fake News" vollständig ausgeschlossen werden könnten, blieben dennoch einige zentrale Probleme der Wahrheitsfindung bestehen, die vor allem mit Fragen der Methodik und Evidenz von Theorien zu tun haben. Hinzu kommt, dass es zu jeder Zeit wissenschaftliche Aussagen gibt, deren Wahrheit zu Unrecht bestritten wird (wie einst die Erkenntnis, dass die Erde keine Scheibe ist, sondern kugelförmig). Außerdem gibt es wahre Aussagen, deren Wahrheit jedoch umstritten bleibt. So konnte die von Einstein postulierte Existenz von Gravitationswellen erst einhundert Jahre später nachgewiesen werden. Streng genommen war Einsteins Aussage über solche Wellen daher "noch nicht" wahr. Neben ungeklärten wahren Aussagen und "Fake News" gibt es einen Bestand unbemerkter Irrtümer, also Erkenntnisse, die als wahr gelten und sich erst im Nachhinein als Scheinerkenntnisse bzw. als falsch herausstellen. In solchen Fällen war offensichtlich niemand zuvor in der Lage, trotz ehrlicher Bemühungen den Irrtum zu erkennen.
Wie ein Thermometer ohne Null-Grad-Punkt
Ein bekanntes Problem ergibt sich durch einen Umstand, den man sich schnell vor Augen führen kann. Wenn es eine Welt gibt, in der wir alle leben und unsere Erkenntnisse sammeln, dann stellt unser Körper in dieser Welt eine Art von Tür oder Filter dar, durch den diese Welt in unser Bewusstsein tritt. Auch wenn das noch metaphorische Sprache ist, die man eigentlich, um wissenschaftlich korrekt zu sprechen, "übersetzen" müsste, so ist doch das Prinzip unmittelbar klar. Beispielsweise können unsere Augen nicht alles sehen, was es zu sehen gibt. Unser Erkennen der sichtbaren Welt ist zudem auf ein bestimmtes – nämlich das sichtbare –Spektrum der Welt begrenzt. So etwa gibt es Infrarotstrahlung oder andere Formen elektromagnetischer Wellen, von denen wir wissen, dass sie existieren, die wir jedoch nie direkt sehen oder hören können. Wenn wir auch diese Aspekte der Welt wahrnehmen wollen, dann gelingt dies nur indirekt mithilfe von Instrumenten. Doch das, was diese Instrumente anzeigen – Daten genannt –, müssen wir interpretieren, denn ohne Interpretation sagen uns Bilder aus einer Nebelkammer, in der radioaktiver Zerfall untersucht wurde, genau so wenig wie ein Thermometer, auf dem kein Null-Grad-Punkt markiert ist.
Der Begriff "Tatsache" spiegelt diesen Sachverhalt gut wider. Dass es Sachen oder Dinge in der Welt gibt, ist für die meisten Menschen unbestritten. Was aber hat es mit der Tat auf sich? Ganz einfach: Die Tat ist die Interpretation der Sachen und Dinge, die wir mithilfe der Sinne, also nur mithilfe einer von uns hinzukommenden Leistung, wahrnehmen können. Zu glauben, dass es eine wertfreie, voraussetzungslose Sicht der Dinge gäbe, ist nicht nur in den Augen eines Philosophen wie Friedrich Nietzsche ein grundlegender Irrtum. Ein solcher Positivismus – gemeint ist damit die Annahme, man könne all das positiv und ungefiltert als wahr erkennen, was die Sinne liefern – ist eine falsche Annahme. Gegen diesen Positivismus "welcher bei dem Phänomen stehen bleibt" und behauptet, dass es reine Tatsachen gibt, argumentierte Friedrich Nietzsche: "Nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Factum 'an sich' feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen. 'Es ist alles subjektiv' sagt ihr: aber schon das ist Auslegung, das 'Subjekt' ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes [...] Soweit überhaupt das Wort 'Erkenntniß' Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne 'Perspektivismus'. Unsre Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen: unsere Triebe und deren Für und Wider." (Friedrich Nietzsche, "Nachgelassene Fragmente", in: Ders., Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 12, Nachlaß 1885–1887, München 1999, S. 315.)
Doch man muss keinen tiefen Abstecher in die Philosophie, oder genauer in den Bereich der Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie machen, um zu erkennen, dass die Dinge etwas komplizierter liegen, als sie in der Regel – auch von Naturwissenschaftlern – dargestellt werden. Sehr deutlich wurde dies in den Vereinigten Staaten von Amerika durch die ganz unphilosophisch geführten Diskussionen um das Thema Klimaerwärmung. Für Präsident Donald Trump galt und gilt als klar und ausgemacht, dass es keine Klimaveränderung gibt, sie vielmehr eine Erfindung der Chinesen sei, um Amerika zu schwächen. Die Klimaveränderung sei keine wissenschaftliche Tatsache, sondern nur eine ideologisch beeinflusste Interpretation von Daten, die man auch anders interpretieren könne. Dieser Ansatz führte tatsächlich zur Löschung von Klimadaten, die einige Forscher in den USA nur dadurch verhindern konnten, dass sie die Daten entgegen der Anweisung auf Server in Europa transferierten.
Schaut man genauer hin, dann ist Trump nicht so weit entfernt von dem, was Nietzsche zu sagen scheint. Es gibt keine unmittelbaren, uninterpretierten Fakten, die sozusagen eins zu eins in positive Erkenntnisse und Aussagen übersetzt werden könnten, und zwar so, dass sich die Welt wie sie ist direkt in der Sprache abbildet. Doch genau darin steckt das Problem: Wie nämlich bildet sich die Welt überhaupt in der Sprache ab? Wie kommt es zu einer Übereinstimmung von Satz und Tatsache? Und wie können wir überhaupt sicher sein, etwas als Tat-Sache zu erkennen, wenn Sinneswahrnehmungen immer auf Interpretation angewiesen sind?
Es gibt keine einfachen Tatsachen
Sieht man sich die Diskussion der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den USA an, ist man einigermaßen erstaunt, um nicht zu sagen erschrocken über die Naivität, mit der Naturwissenschaftler anfangs argumentierten. Sie bestanden schlicht und einfach darauf, dass man doch endlich ihre Tatsachen zur Kenntnis nehmen sollte. Doch hier haben die Kritiker durchaus eine Angriffsfläche, denn es gibt keine "einfachen" weil uninterpretierten Tatsachen. Allerdings kann diese Einsicht nicht, wie bei Trump, dazu führen, komplexe Erkenntnis, etwa über die Veränderung des Klimas, nur deshalb für Fake zu halten, weil sie auf einer Interpretation ebenfalls komplexer Daten basiert. Der nächste und entscheidende Schritt besteht daher darin, zu zeigen, dass andere, alternative Interpretationen der Daten sinnlos, widersprüchlich und damit falsch sind – sie also insgesamt dem, was wir für wahr halten, in einer nicht akzeptablen Weise widersprechen. Solche Prozesse können, wie etwa im Fall der Relativitätstheorie von Albert Einstein, lange dauern. Je komplexer eine Theorie ist, umso schwerer kann es sein, ein Experiment zu finden, das dazu dienen kann, sie endgültig zu beweisen oder zu falsifizieren.
Inzwischen findet man kaum eine Ausgabe der maßgeblichen englischsprachigen Wissenschaftsjournale, in der nicht über die Erkenntnis von Wahrheit nachgedacht und über ihre politischen Auswirkungen diskutiert wird. So veröffentlichte das Wissenschaftsjournal "Science" in der Ausgabe vom 10. Februar 2017 eine ganze Reihe von Artikeln, die sich mit der Frage der Erkenntnis von Wahrheit befassten und mit den wissenschaftlichen Methoden der Beweisführung. Solche Erkenntnisse jedoch in politische Programme umzuwandeln, ist weitaus schwieriger und komplizierter als gedacht – dies ist eine Quintessenz der Essays. Tatsächlich unterscheiden sich die Begriffe von Evidenz in verschiedenen Disziplinen wie Chemie, Biologie oder Politikwissenschaft. Dass auch in den Wissenschaften betrogen wurde, dass Daten bewusst gefälscht, Statistiken frisiert oder Fakten schlicht erfunden wurden, ist keine echte Neuigkeit, auch wenn die Häufigkeit solcher Betrugsskandale zugenommen haben mag, nicht zuletzt, weil der Druck auf die einzelnen Forscher, neue Erkenntnisse und Ergebnisse zu liefern, immer stärker geworden ist. Die Essays in "Science" machen darauf aufmerksam, dass das Entlarven von Lügen nur ein Teil des weitaus komplexeren Prozesses Erkenntnisgewinn ist. Wenn es beispielsweise um die Wirksamkeit eines Medikaments geht oder um unterschiedliche Grenzwerte von gesundheitsgefährdenden Stoffen, etwa bei der Luftverschmutzung in unterschiedlichen Ländern, dann handelt es sich dabei nur selten um klar definierte Fragen von Evidenz. Vielmehr steht gerade das infrage, was als Evidenz in einem so komplexen Fall wie dem Zusammenspiel von Umwelt, Gesundheit und Technik zu gelten hat. Dies ist einer der Gründe, warum es so lange gedauert hat, die medizinischen Folgen der Luftverschmutzung, aber auch die Folgen des Klimawandels lupenrein und ohne "Verschmutzung" durch ideologische Bestandteile wissenschaftlich zu belegen. Ein anderes Beispiel ist die Fragestellung, ob (und wie) sich das Angebot von Mathematikkursen in einem Kindergarten auswirkt. Eine solche Frage macht deutlich, wie komplex der Begriff, aber auch die Feststellung von Evidenz sein kann – etwa mit Blick auf den Zeitraum, in dem mögliche Auswirkungen festgestellt werden können. Ähnlich umstritten ist in der Politik, was im Prozess der Entscheidungsfindung als ein relevantes Datum, also eine Tatsache oder ein Datensatz zu gelten hat, etwa wenn es um den Therapiebedarf und die Wirksamkeit von Vorsorge geht. Der Ruf nach einem sogenannten "Science Advice", also nach einer wissenschaftlichen Beratung über die wissenschaftliche Beratung, die der amerikanische Präsident erhält, mag berechtigt erscheinen, hilft im Detail aber nur wenig, weil er methodische Fragen in die Politik hineinträgt, ohne dass diese bereits beantwortet wären.
Ganze Studien werden auf den Kopf gestellt
Tatsächlich wiesen Wissenschaftler unlängst in "Science" (Ausgabe vom 21. September 2018) darauf hin, dass erstaunlicherweise die wissenschaftliche Forschung und Methodologie selbst nur sehr selten wissenschaftlich untersucht wird. Diese sogenannte Metaforschung hat in letzter Zeit immer wieder zu überraschenden Erkenntnissen geführt und zuweilen ganze Studien buchstäblich auf den Kopf gestellt. Fraglich bleibt jedoch, ob die naturwissenschaftliche Untersuchung von Methoden sich tatsächlich bis ins letzte naturwissenschaftlich studieren lässt und inwiefern sie hilft, den Prozess der Erkenntnisfindung zu verbessern. Denn eine Methode restlos, bis auf den letzten Krümel wissenschaftlich zu erklären hieße auch, die Anwendung dieser Methode durch uns Menschen restlos und vollständig erklären zu können. Ein solcher Versuch ist jedoch zum Scheitern verurteilt. Bislang ist es nicht gelungen, auch nur eine Theorie über den Menschen, das menschliche Verhalten oder Bewusstsein zu formulieren, die sich ohne Zweifel auf physikalische Grundsätze reduzieren ließe. Im Gegenteil, davon ist die Neurowissenschaft als eine mögliche Teildisziplin eines solchen Projektes weiter entfernt denn je. Sie hat es bisher nicht ansatzweise geschafft, eine umfassende Theorie der Entstehung und Funktion von Bewusstsein vorzulegen. Metaanalysen können zwar dabei helfen, wissenschaftliche Debatten zu beenden – führten jedoch, wie die Artikel in "Science" zeigen, häufig zu noch umfassenderen und größeren Kontroversen. Allein im vergangenen Jahr wurden etwa 11.000 Metaanalysen weltweit veröffentlicht, davon allein ein Drittel von chinesischen Autoren. Metaanalysen sind zu einer wachsenden Industrie geworden, denn auch sie kosten, wie jede Wissenschaft, Geld, und auch sie sind, wie jede Wissenschaft, von Interessen geleitet. Interessant ist dabei, dass nicht zuletzt die Diskussion über alternative Fakten zu einer intensiveren wissenschaftlichen Betrachtung der Schwachstellen in der wissenschaftlichen Forschung geführt hat. Ein Beispiel ist der "Truth Squad" an der niederländischen Tilburg Universität. Vor allem psychologische Studien sind zum Gegenstand genauerer Untersuchungen geworden, denn es hat sich in den letzten Jahren immer mehr gezeigt, dass viele auch der berühmten psychologischen Studien nicht reproduzierbar sind. Das bedeutet, dass eine neuerliche Durchführung desselben Experiments nicht zu denselben Ergebnissen führt. Dies ist auch eines der grundlegenden methodischen Probleme in den Neurowissenschaften, denn die Daten, die Gehirnforscher gewinnen, indem Sie ein einzelnes Individuum einem Test unterziehen, sind von Natur aus nicht reproduzierbar: Sie sind die Ergebnisse zu diesem Individuum unter diesen Umständen zu einer gegebenen Zeit. Ändert sich der Zustand der Versuchsperson, etwa weil sie ängstlicher ist als einen Monat zuvor, können sich auch die Ergebnisse des Tests verändern. Diese und andere Probleme haben zur größeren Beachtung methodologischer Fragen in den Wissenschaften geführt. Auch wenn es noch keinen Megatrend ist, so hat doch die wissenschaftliche Untersuchung von Wissenschaft deutlich an Fahrt aufgenommen. Und das ist auch gut so, nicht nur um Donald Trump oder noch verbohrteren Ideologen endlich Paroli bieten zu können.
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Marion Leibrechtleibrecht.mwhatever@zdf.de
Mainz, 28. Januar 2019