
Jeder Trend hat einen Gegentrend
Interview mit Zukunftsforscherin Christiane Varga
Christiane Varga ist Soziologin und Zukunftsforscherin, seit 2012 arbeitet sie im Zukunftsinstitut in Wien. Wie uns die ökologische Wende gelingen könnte, erklärt sie in der "nano spezial"-Dokumentation "Ökochancen – Alternativen für eine nachhaltige Zukunft" am Freitag, 29. November, um 18.30 Uhr (Erstausstrahlung). Warum wir uns die Zukunft meist düster ausmalen und wie Familie Mustermann 2039 lebt, erzählt sie hier im Interview (Auszug).
Sie beschäftigen sich jeden Tag mit der Zukunft. Wie erforscht man etwas, das es noch nicht gibt?
Basis unserer Arbeit sind die sogenannten Megatrends, das sind die großen Entwicklungen, die 30, 40 oder 50 Jahre lang andauern, jeden Bereich der Gesellschaft betreffen und verändern und global wirken – wie beispielsweise die Urbanisierung. Es gibt verschiedene Zugänge zur Trend- und Zukunfts-forschung mit unterschiedlichem Fokus. Manche beschäftigen sich mit Technologietrends, meine Einflugschneise ist der soziale Wandel: Wie verändert sich unsere Gesellschaft, welche neuen Bedürfnisse und Sehnsüchte entstehen? Wie wollen wir in Zukunft wohnen und arbeiten, welche Rolle sollen Technologie und Digitalisierung dabei spielen – und wo sind sie nur Selbstzweck?
Schaut man sich Science-Fiction-Filme an oder fragt Menschen, wie sie sich die Zukunft vorstellen, bekommt man meist ziemlich düstere Antworten. Warum stellen wir uns die Zukunft so apokalyptisch vor?
Sich vor der Zukunft zu fürchten kann paradoxerweise etwas Beruhigendes haben. Wenn es dann doch nicht so schlimm wird, freuen wir uns. Außerdem ist das Thema ja faszinierend, in der Psychologie spricht man von Angstlust. Und es ist letztlich auch eine kulturelle Frage. Zukunft ist aber per se etwas Organisches, das über Rückwege, über Stagnation und Krisen führt. Eine Krise ist nicht das Ende, wie wir so gerne glauben, sondern ein Punkt der Transformation. Wenn sich die Leute früher das Jahr 2000 vorgestellt haben, dann fast immer mit grauen Städten und fliegenden Autos. Und was ist passiert? Es gibt viel Natur in der Stadt, sie wird immer grüner, es gibt Holzhochhäuser und immer mehr Gemeinschaft. Überhaupt hat sich in allen Bereichen über die Jahre hinweg vieles stark verbessert, das belegen Berichte und Zahlen großer Organisationen wie von WHO oder Unicef. Gerade die Sprünge, die es in der Gesundheitsversorgung gegeben hat, sind enorm. Man denke nur an die massiv verringerte Kindersterblichkeitsrate oder die immer selteneren Epidemien. Auch der Zugang zu Bildung wird stetig besser, weltweit dürfen immer mehr Mädchen in die Schule gehen. Das sind fantastische Neuigkeiten, aber berichtet wird lieber über die Katastrophen.
Was das Klima angeht, ist die Entwicklung ja nun keinesfalls als positiv zu bewerten.
Nein, natürlich gibt es auch große Probleme. Hier sind wir wieder bei der Maxime "Höher, schneller und weiter". Wir haben zu lange zu viel zu billige Kleidung gekauft oder sind für 20 Euro übers Wochenende nach London geflogen. Das ändert sich zum Glück gerade. Was mich an der Klimadebatte allerdings stört, ist, dass die Verantwortung zu stark auf den Bürgerinnen und Bürgern liegt. Es ist wichtig zu unterscheiden und konkrete Antworten auf Fragen zu liefern wie: Was verursacht wirklich wie viel CO2? Was kann der Einzelne tun, und wo müssen Großkonzerne ansetzen? In welchen Bereichen ist es sinnvoll, Gesetze zu erlassen? Großkonzerne und Unter-nehmen sollten stärker Alternativen anbieten: weniger Plastikverpackungen, klimaneutrale Produktionen etc.
Welche Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat den größten Einfluss auf unser heutiges Leben gehabt?
Der rote Faden, der wohl alles andere beeinflusst, ist die Individualisierung. Die meisten Menschen in der westlichen Welt können sich heute aussuchen, wie und mit wem sie leben und in welchem Beruf sie arbeiten wollen. Das ist ein zentraler Aspekt und eine Entwicklung, die noch gar nicht so alt ist. Ich denke beispielsweise daran, dass Frauen in Deutschland bis 1977 noch das Einverständnis ihres Ehemanns brauchten, um arbeiten zu gehen. Was den Strukturwandel betrifft, ist aktuell sicherlich die Digitalisierung der große Treiber. Welches künftig wichtige Thema ist noch nicht so richtig in der Öffentlichkeit angekommen? Datenschutz und Datentransparenz! Denken Sie nur an Cambridge Analytica, aber auch an Sprachassistenten wie Alexa und Co: Ich wundere mich, dass es nicht zu einem viel größeren Aufschrei kommt, obwohl über die damit verbundenen Risiken schon so viel publik ist. Die Basissoftware der Sprachassistenten beispielsweise wurde ursprünglich für militärische Zwecke entwickelt. Wenn alles miteinander vernetzt ist, ist das ganze System auch viel stör- und hackeranfälliger. Das Perfide daran ist, dass das Datensammeln fast alle Lebens-bereiche durchdringt – etwa durch Tracking über Sportuhren oder Apps. Dadurch haben die Konzerne Zugriff auf eine Vielzahl an Informationen. Das kann letztlich zu einem stark manipulativen Umfeld führen – und das ist den wenigsten so richtig bewusst.
Wie wird sich dieser Aspekt der Digitalisierung Wie wird sich dieser Aspekt der Digitalisierung in der Arbeitswelt widerspiegeln?
Datenschutz wird mit Sicherheit ein viel wichtigeres Arbeitsfeld. Auch Aufklärungs- oder Beratungscoaches in Sachen Datensicherheit werden immer bedeutender, Programmieren und Coding werden eine große Rolle spielen. Insofern fände ich es gut, wenn entsprechende Fähigkeiten auf spielerische Art und Weise schon in der Schule vermittelt werden würden. Zukunftsfähig sind aber auch alle Berufe, die mit Kreativität, mit menschlicher Begegnung und mit abstraktem Denken zu tun haben. Alle monotonen Tätigkeiten oder Fragen, die einer Grundlogik folgen, zum Beispiel Teilbereiche der Buch-haltung, werden von Computern übernommen. Ich glaube nicht, dass die Digitalisierung ein Job-Killer, sondern vielmehr ein Job-Shifter ist.
Worüber wird "nano" in 20 Jahren berichten: Dass Krebs heilbar ist, dass auf dem Mond ein Wohnkomplex gebaut wird oder es auf der Erde wieder Dodos gibt?
Die Silicon-Valley-Giganten interessiert das ewige Leben. Ich glaube nicht, dass es unendlich verlängerbar ist oder sein sollte. Aber dass in nicht allzu ferner Zukunft 120-Jährige auf unserem Planeten Geburtstag feiern, halte ich für möglich. Die Besiedlung des Mars und der Versuch, dort Gemüse anzupflanzen, könnte ein weiteres Thema sein. Tesla-Chef und SpaceX-Gründer Elon Musk arbeitet ja bereits an der Idee einer Mars-Kolonie. Ich bin jedenfalls schon sehr neugierig darauf, worüber "nano" in 20 Jahren berichten wird. Und ich glaube, dass die Grundstimmung wieder besser sein wird. Dass die Menschen dann auf die jetzige (Umbruchs-)Phase schauen werden und sich denken: Das war wohl eine von vielen Unsicherheiten geprägte Zeit, aber sie hat die Weichen für ein achtsameres, bewussteres Heute gestellt.
Das vollständige Interview finden Sie in der Sonderpublikation "20 Jahre nano".
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Mainz, 01. Oktober 2019