Autor und Regisseur: Peter Nestler © ZDF und Dieter Reifarth

"Ohne moralische Haltung ist das Filmemachen wertlos", sagt Autor und Regisseur Peter Nestler

Peter, Du weist in Deinem "Director's Statement" zu den Filmen "Unrecht und Widerstand" und "Der offene Blick" darauf hin, dass du bereits 1970 für das schwedische Fernsehen den Film "Att vara zigenare" gedreht hast. Was stand am Anfang dieses Interesses an der Situation der Sinti und Roma damals? Gab es persönliche Begegnungen?

1966 bin ich aus der Bundesrepublik nach Schweden umgezogen, dem Land meiner Mutter. Damals hatten die schwedischen Roma ihren Kampf für Bürgerrechte aufgenommen. Ihre Lebensverhältnisse in diesem wohlhabenden Land waren prekär und damals vergleichbar mit denen deutscher Sinti und Roma, den Überlebenden des Holocaust an den Rändern der Städte. Zusammen mit Unterstützern, wie dem Arzt John Takman, waren es in Schweden vor allem die Geschwister Katarina und Rosa Taikon, die bis zum Staatsminister Tage Erlander vordrangen und für ihre Minderheit grundlegende Rechte forderten: Anerkennung als schwedische Volksgruppe, Schulunterricht, menschenwürdige Wohnungen und allgemeine Krankenversicherung. Es gab in Schweden viele Parallelen zu Deutschland, was Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung dieser Minderheit betrifft, auch historisch gesehen und über Jahrhunderte hinweg. Aber unfassbar für mich war in Deutschland das Verschweigen und die Nicht-Anerkennung des Genozids an Sinti und Roma im NS-besetzten Europa. Mit meiner Frau Zsóka lernte ich 1969 einen Sinto aus der ehemals großen Familie Friedrich kennen. Als Kind hatte er den Völkermord überlebt und das Konzentrationslager nach der Befreiung einsam verlassen. Mit ihm als einem der Protagonisten und als Vermittler zu anderen in Deutschland lebenden Zeitzeugen haben wir unseren Film "Zigeuner sein" gedreht. Es gibt eine schwedische und eine deutsche Fassung. In Schweden wurde unser Film sofort gesendet und wiederholt. Es vergingen allerdings Jahre, bis der Film bei einem deutschen Sender gezeigt wurde.

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Und was war der Ausgangspunkt, sich über 50 Jahre später des Themas in einer historischen Perspektive erneut anzunehmen?

Das Nachdenken über den Holocaust ist mir geblieben. Als einem Deutschen, wenn auch jetzt mit schwedischem Pass, sitzt mir diese Schreckensgeschichte im Genick, lebenslang. Es entstanden Filme wie "Die Judengasse" (1988), "Flucht" (2000), "Die Verwandlung des guten Nachbarn" (2002). In den letzten Jahren ist "Zigeuner sein" (1970) viel gezeigt worden, vor allem bei Workshops, Konferenzen und Retrospektiven.

 

Wie ist der Kontakt zu Romani Rose und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern der Bürgerrechtsbewegung zustande gekommen, der es ermöglichte, einen Film wie „Unrecht und Widerstand“ zu drehen?

Im Februar 2018 gab es in Berlin eine internationale Konferenz "Antigypsyism and Film", zu der man mich eingeladen hatte, weil "Zigeuner sein" in einem Beitrag von Matthias Bauer (Universität Flensburg) als positives Gegenbeispiel beschrieben wurde in dieser Flut antiziganistischer Filme seit Beginn der Filmgeschichte. Ich sollte die zweite Sektion, "The Question of Ethics", mit einer Rede einleiten und tat dies, unter dem Titel "Ohne moralische Haltung ist das Filmemachen wertlos". In einem Pausengespräch meinte Romani Rose, man sollte einen Film drehen über die Zeit der Bürgerrechtsbewegung, von den Anfängen während der 1970-er Jahre bis heute, aber auch über den Widerstand während der Nazi-Herrschaft, und ob ich da jemanden kenne in der Filmbranche, der das machen könnte. Die Idee fand ich gut und wichtig, habe sie weitergereicht an meinen Freund und Kollegen Rainer Komers, der dann wiederum mich als Regisseur einbinden wollte und als Produzenten den gemeinsamen Freund und Filmemacher Dieter Reifarth. Wir kannten uns seit 50 Jahren, hatten auch einige Filme gemeinsam zustande gebracht, ohne Streit. Ein weiterer Freund, der Tonmeister Michael Busch (einer der besten!), kam später dazu.


Die Arbeit an den Filmen hat sich, meiner Kenntnis nach, über mehr als drei Jahre erstreckt. Wie bist Du bei der Recherche und dann bei den Dreharbeiten, die zum Teil unter Pandemieumständen stattfanden, vorgegangen?

Bei der Recherche, die auch während der Dreharbeiten ständig weiterging, hatten wir viel Unterstützung von der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg bekommen, und vom Dokumentations- und Kulturzentrum des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Unser Drehplan musste mehrmals umgeschrieben werden, nachdem im Jahr 2020 Aufnahmen mit Gruppen von Menschen wegen der Ansteckungsgefahr abgesagt wurden. Bei einigen Dreharbeiten war ich von Schweden aus nur per Telefon und Internet dabei, vor und nach den Aufnahmen. Später bekam ich das jeweilige Resultat zugeschickt. Im Juli 2021 aber begann ein sehr intensiver gemeinsamer Dreh in Österreich, Deutschland, Frankreich und Polen. Insgesamt ist in diesen Jahren der Recherche und des Drehens viel interessantes Material zusammengekommen, neu von uns aufgenommenes und auch Fremdmaterial aus den Archiven der Fernsehanstalten, der Filminstitute und Produktionsfirmen. Aus dem anfangs geplanten langen Film wurden zwei Langfilme.

 

Sowohl "Unrecht und Widerstand" wie "Der offene Blick" enthält explizit wie implizit eine medienkritische Reflektion der Darstellung von Sinti und Roma in Fotografien, Filmen und in der Fernsehberichterstattung. Kam dieser Aspekt erst im Laufe der Arbeit an den Filmen zum Tragen oder war es Dir von vornherein ein Anliegen, dies zu thematisieren?

Dieser Aspekt war von Anfang an da, war geplant – vor allem nach meiner Teilnahme an der oben erwähnten Konferenz "Antigypsyism and Film" in Berlin 2018. Aber ich wusste zu wenig. Die Beiträge der Forscher Radmila Mladenova und Frank Reuter in beiden Filmen sind ungeheuer wertvoll und eben – brauchbar, erhellend.

 

Du zeigst in Deinen Filmen, wie lange sich antiziganistische Vorurteile in unserer Gesellschaft gehalten haben. Wie kann es, Deiner Einschätzung nach, gelingen, diese zu überwinden, um zu dem "offenen Blick" zu gelangen?

Durch Ausbildung, Ausbildung, Ausbildung. Auf der anderen Seite Monitoring rassistischer Hetze im Netz und gegebenenfalls Bestrafung nach Paragraph 130 StGB.

 

Die Fragen stellte Udo Bremer (Redaktion ZDF/3sat)

 

 

Peter Nestler, Jahrgang 1937, zählt seit den 1960er-Jahren zu den bekanntesten deutschen Dokumentarfilmregisseuren.‎ Er lebt seit den 1970er-Jahren in Schweden und hat für deutsche Sender und das schwedische Fernsehen Dokumentarfilme realisiert. Zuletzt hat er für das Museum Ludwig den Film "Picasso in Vallauris" (2021) gedreht, zuvor für ZDF/3sat die Filme "Flucht" (2000), "Die Verwandlung des guten Nachbarn" (2002), "Fremde Kinder: Mit der Musik groß werden" (2003), "Verteidigung der Zeit" (2007) und "Tod und Teufel" (2009).

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Claudia Hustedt
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Mainz, 01. Juni 2022