
"Unterhaltung mit Erkenntnisgewinn" - Gert Scobel ist Moderator der ersten Stunde
Der Journalist, Moderator, Autor und Philosoph Gert Scobel kennt die „Kulturzeit“ seit ihren Anfängen. Darüber, was sie auszeichnet, gerät er immer noch ins Schwärmen
Als ich nach einigen Jahren der Abstinenz vor Kurzem wieder einmal "Kulturzeit" moderieren konnte – ich vertrat eine Kollegin, die aufgrund der Corona-Bestimmungen nicht nach Deutschland einreisen durfte –, war das für mich mehr als ein schöner Zufall. Erstaunlicherweise fühlt sich die Sendung immer noch jung an, auch wenn ich es längst nicht mehr bin. Wenn man aus heutiger Sicht, 25 Jahre nach dem Start der "Kulturzeit" , über dieses Format nachdenkt, sollte man nicht vergessen, was es damals alles noch nicht gab – und das war eine ganze Menge. Tatsächlich war und ist "Kulturzeit" in mehrfacher Hinsicht einzigartig. Zunächst gab es vor "Kulturzeit" kein einziges werktägliches Kulturmagazin im deutschsprachigen Fernsehen – und soweit ich weiß auch weltweit nicht. Warum? Viele Kolleginnen und Kollegen hielten damals allein die Vorstellung, täglich eine Sendung mit Kulturthemen zu bestücken und dann auch noch interessant über Kultur zu berichten, für vollkommen abwegig und undurchführbar. Zweitens war „Kulturzeit“ das erste tatsächliche Fernsehfeuilleton im deutschsprachigen Kulturbereich überhaupt. Bis zu dieser Zeit war ein Feuilleton per Definition ein reines Printprodukt. Fernsehen galt 1995 immer noch nicht als seriöses Medium für kulturelle Auseinandersetzung oder theoretische Diskurse. Print hatte darin ein Monopol – oder glaubte damals zumindest, es zu haben. Zwar gab es anerkannt gute und kritische TV-Kulturberichterstattung, Dokumentationen oder Gesprächsformate, aber eben kein Äquivalent zur täglichen Kulturberichterstattung in den führenden Tageszeitungen.
Drittens stellte dieses erste Fernsehfeuilleton auch strukturell ein durchaus gewagtes Experiment dar, weil es vier Sender aus drei Ländern zusammenbringen musste. Es galt, den Fokus auf eine aktuelle, zugleich hintergründig-kritische und multiperspektivische Zusammenarbeit auszurichten. Viertens war neu, dass "Kulturzeit" einen entschieden offenen Kulturbegriff vertrat (was etliche Akteure des Kulturbetriebes verärgerte) und sich sehr bewusst nicht alleine auf Hochkultur bezog. Noch bevor Frank Schirrmacher in der "FAZ" den Blick der Kultur auf die Entwicklungen in den Wissenschaften weitete und damit im Medium Print ein Programm verwirklichte, das der amerikanische Literaturagent John Brockman als "dritte Kultur" bezeichnet hatte, war "Kulturzeit" diesen Schritt bereits gegangen. Denn wie sollte man beispielsweise über die Entwicklungen in der Genetik oder über neuropsychiatrische Entdeckungen sprechen, wenn nicht in Bezug auf das, was den Menschen selbst ausmacht und folglich ein zentrales Thema der klassischen Anthropologie und der Philosophie ist, die bei "Kulturzeit" mehr als sonst irgendwo im Fernsehen eine wichtige Rolle spielen. Außerdem war „Kulturzeit“ im Vergleich zu anderen Kulturmagazinen interdisziplinär und offen für die Vielfalt nicht nur klassischer Bereiche wie Theater, Literatur, Musik und Kino, sondern auch für neue Anregungen aus der Popkultur, aus Hip-Hop, Musikvideos oder zeitgemäßen Strömungen in Mode und Design.
Fünftens hatte "Kulturzeit" im Unterschied zu vielen gängigen Feuilletons einen explizit politischen Kulturbegriff und folgte damit, im weitesten Sinn jedenfalls, dem, was die Frankfurter Schule und die kritische Theorie vorgedacht hatte. In vielem entsprach die tägliche Arbeit bei „Kulturzeit“ dem methodischen Vorgehen in Adornos "Minima Moralia", nämlich einer engen Anbindung theoretischer Reflexion an die Erscheinungen der Zeit. Und wenn für Hegel Philosophie hieß, die Zeit in Gedanken zu erfassen, dann erfasste „Kulturzeit“ ihre Zeit in Begriffen und Bildern. Dass neben der Einbindung von Theorien – ob aus der Psychoanalyse oder der Philosophie – der Blick auf die Politik konsequent beibehalten wurde, ist ein bleibendes Verdienst von "Kulturzeit" und stellt durchaus Pionierarbeit im Fernsehen dar. Die Tagespolitik, die in den Nachrichten unmittelbar vor "Kulturzeit" zu sehen war, wurde Gegenstand kulturkritischer Reflexion, die nicht die Parteipolitik in den Blick nahm, sondern Politik als Politik thematisierte. Darüber hinaus war "Kulturzeit" , ungewöhnlich genug für die Zeit, ausdrücklich angelegt als ein kritisches Kulturmagazin, das sich einmischen wollte und sollte. Ein entscheidender Aspekt war dabei die Analyse all jener Bewegungen, die sich weitgehend unbemerkt und dennoch relevant als "shifting baseline" eher im Hintergrund vollzogen. Ein sechster Punkt kommt hinzu, den ich häufig mit der Formel „Unterhaltung mit Erkenntnisgewinn“ beschrieben habe. Mir selber erscheint es bis heute unsinnig, Kultur als Fettauge auf der Wohlstandssuppe zu betrachten, als einen Luxus, der zudem stets ein bisschen weh tun und unbequem sein muss, um wahre Kultur sein zu können – so als sei Kultur notwendig schwer, traurig, dröge und irgendwie immer kopflastig. Kultur prägt das, was wir alltäglich denken, fühlen und tun. Auch Goethes "Faust" ist, bei aller Ehrfurcht vor diesem Text, Unterhaltung. Aber keine platte, dumme oder gar verdummende Unterhaltung, sondern im Gegenteil Unterhaltung, die sich mit Erkenntnis verbindet. Erkenntnis ist, unabhängig von ihrer Gestalt, das wesentliche Merkmal von Aufklärung. Hinzu kommt, dass Unterhaltung keineswegs dumme Blödelei ist, sondern Kennzeichen eines guten Gesprächs, und solche Gespräche gab und gibt es bei "Kulturzeit" beinahe täglich. Das Kriterium der Unterhaltung mit Erkenntnisgewinn war in jedem Beitrag, in jeder Moderation, in jedem Gespräch und in jeder Sendung die entscheidende Messlatte. Was viele vergessen haben: "Kulturzeit" startete ziemlich genau drei Monate, bevor die "Harald Schmidt Show" bei SAT1 auf Sendung ging. Dass Schmidt in seiner Show sein Kulturinteresse auslebte, führte dazu, dass viele Zuschauer*innen tatsächlich 3sat und SAT1 miteinander verwechselten. Das dürfte sich inzwischen grundlegend geändert haben – auch dank "Kulturzeit" , einem noch immer einzigartigen Fernsehformat im deutschsprachigen Raum.