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scobel – Kirchen: Hirten ohne Herde

Do 04. Mai
21:01 Uhr
(Erstsendung: 15.12.2022)
Die Kirchen verlieren dramatisch an Bedeutung. Erstmals seit Langem liegt der Anteil der Kirchenmitglieder in Deutschland unter 50 Prozent. Forscher sprechen von einer historischen Zäsur.

Könnte eine universelle Ethik die Kirchen ablösen? Zu Gast bei Gert Scobel sind die Redakteurin und Autorin Christiane Florin, die österreichische evangelische Theologin Cornelia Richter sowie der Religions- und Kultursoziologe Detlef Pollack.

Die Missbrauchsskandale allein erklären die Abkehr von den Kirchen nicht. Eine große Rolle spielen auch die Reformunfähigkeit und die sich verändernden Ansprüche moderner Gesellschaften. Dabei ist das Bedürfnis nach Spiritualität gerade in Krisenzeiten besonders hoch.

Mit 360.000 Austritten kehrten nie zuvor so viele Katholiken ihrer Kirche den Rücken wie im Jahr 2021. Viel besser sah es auch für die Evangelische Kirche nicht aus: 280.000 Mitglieder erklärten 2021 ihren Austritt. Die dramatische Zahl sexueller Straftaten, das Schweigen und Vertuschen haben unbestritten einen großen Anteil an dieser möglicherweise existenziellen Krise. Doch es spielen viele weitere Faktoren eine Rolle. Ein großes Problem für viele Gläubige ist die anhaltende Reformunwilligkeit, besonders in der katholischen Kirche: Beispielsweise bleiben Frauen noch immer von Weiheämtern ausgeschlossen, Wiederverheiratete dürfen die Kommunion nicht empfangen, Homosexuelle fühlen sich weiterhin diskriminiert, werden weder getraut noch gesegnet. Das sind nur einige der Themen, bei denen der Vatikan bis heute keine Reformbereitschaft zeigt.

Daneben hat sich unsere Gesellschaft massiv verändert. Sie ist offener, moderner und heterogener geworden. Verschiedene Religionen und Philosophien haben sich mittlerweile vermischt, und neue Ideen entstehen. Ist Religion im traditionellen Sinn nur ein störender Anachronismus, eine Art geduldeter Aberglaube?

Für immer mehr Menschen besteht zwischen Glauben und Kirche kein zwingender Zusammenhang mehr. Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Seelsorge waren lange Kernkompetenzen der Kirchen. Geht dies alles nun mit ihrer zunehmenden Bedeutungslosigkeit verloren?

Das Bedürfnis der Menschen nach Spiritualität, Transzendenz, nach Halt, Orientierung und Trost – gerade in unruhigen Zeiten wie diesen – ist groß. Könnte eine universelle Ethik die Kirchen ablösen? Eine neue Humanität, die weder von einer einzigen Religion noch von einer weltlichen Ideologie dominiert wird, wie es der große Philosoph Charles Taylor durchaus für möglich hält?

Über diese und weitere Fragen diskutiert Gert Scobel mit folgenden Gästen:

Die Redakteurin und Autorin Christiane Florin arbeitet seit 2016 in der Redaktion "Religion und Gesellschaft" beim Deutschlandfunk, zuvor war sie Leiterin der "ZEIT"-Beilage "Christ&Welt". Sie hat Politik, Geschichte und Musikwissenschaft in Bonn und Paris studiert. Bekannt wurde sie durch ihre Bücher "Der Weiberaufstand" und "Trotzdem – Wie ich versuche katholisch zu bleiben".

Die österreichische evangelische Theologin Cornelia Richter ist Hochschullehrerin für Systematische Theologie. Sie studierte evangelische Theologie und Philosophie in Wien und München. Seit 2012 lehrt sie als Professorin für Systematische Theologie und Hermeneutik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Seit April 2020 leitet Richter die Fakultät als Dekanin. Sie koordiniert die DFG-geförderte Forschungsgruppe Resilienz in Religion und Spiritualität.

Der Religions- und Kultursoziologe Detlef Pollack forscht unter anderem über das Verhältnis von Religion und Moderne. Er promovierte über die Religionstheorie Niklas Luhmanns und ihre systemtheoretischen Voraussetzungen. Er ist Professor für Religionssoziologie im Rahmen des Exzellenzclusters Religion und Politik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

3sat
Gespräch/Diskussion
Kultur: Religion, Kirche

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