wissen aktuell: Der tödliche Unterschied

Der tödliche Unterschied Warum das Geschlecht ein Gesundheitsrisiko ist

Do 27. Apr
20:15 Uhr
Erstausstrahlung
Frauen und Männer unterscheiden sich, vor allem biologisch. Aber Ärzte wissen das oft nicht. Sie behandeln "den Patienten", ein Fantasiewesen.

Er ist jung, mittelgroß, mittelschwer und vor allem männlich. Das hat weitreichende – manchmal tödliche – Konsequenzen. Frauen erhalten häufig falsche Diagnosen und Therapien. Gleichzeitig werden auch Männer bei angeblich "weiblichen" Krankheiten falsch behandelt.

Schuld an der Schieflage sind althergebrachte Geschlechtervorstellungen: Der Mann gilt als Norm, die Frau als Abweichung. "wissen aktuell" zeigt mutige Forschende und Ärztinnen und Ärzte, die eine neue, gerechtere Medizin entwickeln.

Es kommen Patientinnen und Patienten zu Wort, die zum Beispiel mit Krebs oder schwerer Depression um ihr Leben kämpfen. Sie berichten davon, wie ihr Geschlecht und Rollenklischees ihr Schicksal bestimmen.

Inge Thomas hat unheilbaren Lungenkrebs. Eigentlich könnte sie gut und länger leben dank einer Behandlungsmethode, die sogar mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Allerdings ist das Medikament, das dabei verschrieben wird, für Frauen nur unzureichend untersucht. Es ist also fraglich, wie gut es Patientinnen helfen wird. Grund ist der allgegenwärtige Gender-Data-Gap – die mangelhafte Datenlage, weil viel zu oft nur an Männern geforscht wird. Die Krebspatientin Thomas überrascht das: "Ich habe mir da nie groß Gedanken drüber gemacht. Wenn man in dieser Situation ist, da versucht man alles."

Ihre Ärztin, Krebsexpertin Prof. Dr. Dr. Sonja Loges, will die Datenlücke schließen und herausfinden, wie die Immuntherapie für Männer und Frauen besser wirken kann. Sie verlangt auch ein politisches Umdenken für die Medikamentenforschung: "Ich denke, das kann nur auf Ebene der Regulationsbehörden so laufen, dass für Zulassungsstudien gefordert wird, dass es genug Männer und Frauen sind, sodass man in den Gruppen eine Aussage machen kann."

Der Gender-Data-Gap hat Claudia Junghans beinahe umgebracht. Denn mit ihren Herzinfarkt-Symptomen wurde die junge Frau vom Arzt nicht ernst genommen. Notfall-Anzeichen von Frauen sind vielen Medizinerinnen und Medizinern schlichtweg unbekannt, weshalb Tausende pro Jahr an zu spät erkannten Herzinfarkten sterben.

Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrosek ist Kardiologin und Gründungspräsidentin der Deutschen und der Internationalen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin. Sie ist der Frage nachgegangen, warum Frauen so viel häufiger als Männer nach einem Herzinfarkt sterben. Ein Grund sind bisher unerforschte Mechanismen: "Wir sehen, dass Frauen andere Ursachen von Herzinfarkten haben, Verkrampfungen der Gefäße oder aber Längseinrisse der Gefäße oder aber stressinduzierte Herzerkrankungen. Damit können wir viel schlechter umgehen, weil wir weniger Studien dazu haben, viel weniger Daten, und wir viel weniger wissen, wie wir die Menschen behandeln müssen."

Zudem erkannte die Medizin-Pionierin, dass nicht nur die Biologie gesund oder krank macht: Auch soziale und ökonomische Faktoren sind entscheidend - zum Beispiel Einkommen, Arbeitslast und Status. Die sind aber wesentlich geschlechtsspezifisch bedingt, weshalb Geschlecht als Kategorie künftig mitgedacht werden sollte, um Krankheiten vorzubeugen oder zu behandeln.

Geschlechterklischees spielen auch dann oft eine Rolle, wenn bei Männern gravierende medizinische Probleme verkannt werden. Angeblich "weibliche" Krankheiten wie Depression oder Essstörungen werden erschreckend häufig gar nicht diagnostiziert. So wie bei Künstler Victor Primavesi. Als er mit einer schweren Essstörung psychologische Hilfe sucht, erhält er keine. Der ärztliche Rat: Er solle die Sache mit der Bulimie doch einfach sein lassen. Er erzählt: "Ich hab manchmal den Eindruck, dass ich diesem Stereotyp begegne. Warum hast du eine Essstörung? Warum hast du Bulimie? Du bist doch keine Frau. Das ist das, was ich oft auch zu hören bekomme."

Unerkannte psychische Erkrankungen können tödliche Folgen haben - Depression ist eine der Hauptursachen für Selbsttötungen. Prof. Dr. Heide Glaesmer von der Abteilung für Psychologie an der Universitätsmedizin Leipzig erforscht in einer weltweit einzigartigen Studie suizidales Verhalten bei Männern: "Man geht davon aus, dass auf einen vollendeten Suizid 20 bis 40 Versuche kommen. Da ist es so, dass Frauen mehr Suizidversuche unternehmen und Männer häufiger durch einen Suizid sterben. Unter anderem, weil Männer letalere Methoden benutzen. Also die Methoden, die häufiger zum Tod führen." Im Jahr 2020 haben sich 9206 Menschen selbst getötet. Mehr als es Verkehrstote gab - und viel mehr Männer als Frauen.

Um die ungerechte Behandlung von Frauen und Männern in der Medizin zu stoppen, muss ausreichend zu biologischen Unterschieden von Erkrankungen geforscht werden. Die Forschenden sind überzeugt, dass gendersensible Daten eine bessere Medizin für beide Geschlechter hervorbringen werden. Und es muss das Bewusstsein für Klischees geschärft werden.

Diese Aufgabe übernimmt die Lehre. Gendermedizinerin Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione bildet in dem gendersensiblen Medizinstudiengang in Bielefeld Ärztinnen und Ärzte aus: "Wir wollen, dass die Aufmerksamkeit für Geschlecht in allen Fachrichtungen und bei aller klinischer Praxis und biomedizinischer Forschung ankommt."

Forschende und Ärztinnen und Ärzte müssen sich und ihr vermeintliches Wissen infrage stellen. Es ist ein mühsamer Wandlungsprozess der Medizin. Denn die Klischees stecken tief und haben eine lange Geschichte – selbst in der vermeintlich objektiven Anatomie. Prof. Dr. Heike Kielstein, Anatomin und Dekanin der Medizinischen Fakultät Halle, beklagt die Vorherrschaft der männlichen Körper in der Lehre. Die Mehrzahl von Präparaten und Modellen zeigt Männer. Ebenso aktuelle Lehrbücher: männliche Körper überall.

Prof. Kielstein meint dazu: "Das ärgert mich sehr. Wir müssen den Studierenden die Anatomie beider Körper beibringen. Nicht nur die Geschlechtsorgane unterscheiden sich zwischen Männern und Frauen. Unterschiedlich ist die Körperfettverteilung, aber auch die Größe und die Position von Organen. Wenn man sich vorstellt, man untersucht das Herz und die Lunge eines Patienten oder einer Patientin, dann gibt es da einen Unterschied. Es wäre schon schön, wenn wir dazu passende Abbildungen in Büchern hätten."

Oder kann es die Digitalisierung richten? Die Medizin kann mithilfe moderner Technik gerechter werden, denn Smartwatch, KI und Fitness-Apps könnten genauer mit dem Geschlecht umgehen. Allerdings nur, wenn Algorithmen mit dem entsprechenden Bewusstsein für die schiefe Datenlage programmiert werden. Prof. Dr. Sylvia Thun, Direktorin der Core-Unit eHealth an der Charité Berlin, kennt viele Anwendungen, die Frauen diskriminieren. Und mahnt: "Wir brauchen bei den sogenannten Digitalen Gesundheitsanwendungen und bei neuen Apps die Voraussetzung, dass die Genderaspekte auf jeden Fall mit bedacht werden. Wir brauchen ein Bewusstsein dafür, dass der Gender-Bias da ist. Dass man den als Wissenschaftler auch herausrechnen sollte und immer wieder hinterfragt: Was sind das für Daten? Und meines Erachtens brauchen wir auch nicht nur ein Bewusstsein, sondern wir brauchen ganz klare Gesetze. Wir müssen also wirklich vorschreiben, dass bei klinischen Studien immer zu 50 Prozent auch Frauen zu berücksichtigen sind." Ansonsten verstärken selbst lernende Algorithmen die Ungerechtigkeit – und der Geschlechterunterschied bleibt potenziell tödlich.

Also egal ob in den Hörsälen, Laboren und Techfirmen oder in den Kliniken und Praxen – es gibt noch viel zu tun auf dem Weg zu einer gerechten Diagnostik und Behandlung von Frauen und Männern.

ARD/MDR/3sat
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