Go West Go East - Verrechnet oder verraten?

Flucht über die dänische Botschaft
Film von Matthias Hoferichter
Do 22. Sep
22:58 Uhr
(Erstsendung: 16.05.2022)
Um 4.00 Uhr morgens, am 9. September 1988, machen sie sich von Ilmenau in Thüringen auf den Weg: sieben Männer, sechs Frauen und fünf Kinder. Ihr Ziel: die dänische Botschaft in Ost-Berlin.

Schlaflose Nächte lagen hinter, eine ungewisse Zukunft lag vor ihnen - und die Hoffnung, vielleicht doch noch in den Westen ausreisen zu dürfen. Was passierte damals wirklich? Die Dokumentation zeichnet den Fall, der zum Politikum wurde, nach.

Seinen ersten Ausreiseantrag stellte Wolfgang Mayer, der Kopf der Gruppe, bereits 1986. Er und die anderen erwachsenen Mitglieder der Gruppe litten wegen ihrer Anträge seit Jahren unter Berufsverboten, Ausgrenzung und Diskriminierung durch die DDR-Behörden.

Kurz nach 11.00 Uhr betraten die Familien nach und nach in kleinen Gruppen das Botschaftsgebäude. Der Weg führte über den Eingang der Komischen Oper. Der Botschafter ließ sich nicht blicken, als seine Vertretung erschien der diensthabende Botschaftsrat. Der erste spontane Versuch, die DDR-Bürger der Botschaft zu verweisen, schlug fehl, die Familien blieben. Für die Gruppenmitglieder ging es um das Timing. Seit Jahren hatten sie auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, nun schien er gekommen. Denn wenige Tage später, am 13. September, sollte der dänische Ministerpräsident Poul Schlüter der DDR und ihrem Staatschef Erich Honecker einen Staatsbesuch abstatten. Das "Neue Deutschland" titelte später von "Ausbau und Vertiefung der Zusammenarbeit" zwischen der DDR und Dänemark. Der Termin, so die Hoffnung der Gruppe, würde den außenpolitischen Druck auf die DDR und damit die Chancen einer Bearbeitung ihrer Ausreiseanträge von hoher, kompetenter Stelle vorantreiben.

Unter westlichen Partnern gab es eine klare Verabredung: Falls es zu einer Botschaftsbesetzung kommen sollte, würde zunächst nur das eigene Außenministerium kontaktiert. Ziel wäre es, den Ausreisewilligen zur Seite zu stehen und ihnen zu helfen. Die Mitarbeiter der dänischen Botschaft setzten jedoch überraschenderweise auf die Zusammenarbeit mit den DDR-Behörden.

In der Nacht, gegen 2.30 Uhr, erschienen in der Botschaft mehrere Dutzend Stasi-Mitarbeiter in zivilen Trainingsanzügen. Zwei Reisebusse rollten in den Hof, die Stasi stand Spalier und erwartete die Familien. Den Thüringern war klar: Der Westen war nun weiter weg als je zuvor. Ihre Fahrt ging ins Stasi-Hauptquartier in die Magdalenenstraße in Berlin-Lichtenberg. Stundenlange Verhöre folgten. Die Kinder wurden in Heime gebracht und ebenfalls verhört, darunter auch der damals zwölfjährige Felix Mayer: "In einer der ersten Nächte hat mich jemand ständig aufgeweckt. Doch meine Eltern hatten mich vorbereitet, ich habe mich dumm gestellt."

Der Fluchtversuch scheiterte an diesem Septembertag noch, doch er sollte Folgen haben. Zehn Tage später war er Top-Thema in den Hauptnachrichten der "Tagesschau". Nun erfuhren erstmals die westdeutsche und die dänische Öffentlichkeit von dem Fall. Dadurch wuchs der politische Druck auf die DDR. Die Männer der Gruppe wurden im Oktober 1988 zu Bewährungsstrafen verurteilt, die Frauen nach zehn Tagen "aus humanitären Gründen" aus der Untersuchungshaft entlassen. Sie durften mit ihren Kindern nach Ilmenau zurückkehren. Fünf Monate später wurden die Familien von der BRD freigekauft und konnten ausreisen. Dass die Strafen nicht drakonischer ausfielen, lag wohl vor allem daran, dass der Fall in Dänemark zum echten Politikum wurde und damit die DDR unter Druck setzte.

Für viele Dänen und die Medien galt die Zurückweisung der DDR-Bürger als unmoralisch, peinlich, skandalös. Es wurde sogar ein Untersuchungsausschuss eingerichtet, der klären sollte, warum die dänischen Diplomaten so bereitwillig mit den DDR-Funktionären kooperierten. Der Abschlussbericht belastete den Botschafter schwer, er wurde als alleiniger Entscheidungsträger zur Verantwortung gezogen. Ein Bauernopfer?

Was genau wurde in den Hinterzimmern ausgehandelt - und von wem? Erstmals freigegebene Dokumente legen die Spur für die Rekonstruktion einer Botschaftsflucht in der DDR, die zum Ausgangspunkt für spätere Massenfluchten über westliche Botschaften in Prag, Budapest und Warschau wurde und damit auch zum Teil für die spätere friedliche Revolution 1989.

ARD/MDR
Dokumentation
Kultur: Zeitgeschichte von 1945-1989

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