
"Der Anschlag": Fünf Fragen an die Filmemacherin Astrid Schult
Die Autorin spricht im Interview über ihre Dokumentarfilm-Serie "Der Anschlag"
Was hat Sie bewogen, sich in diesem großen zeitlichen Abstand mit dem Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz zu befassen?
Im Jahr 2017 habe ich das erste Mal zum Breitscheidplatz recherchiert, und viele Begegnungen haben sich mir nachhaltig eingebrannt. Mich haben die Geschichten der Betroffenen und Ersthelfer einfach nicht losgelassen. Ich war dann regelmäßig im Untersuchungsausschuss, habe mit vielen gesprochen und hatte den Eindruck, dass auch mit dem Abschlussbericht die Verletzungen der Angehörigen noch spürbar waren.
Durch meinen engen Kontakt mit diesen Menschen habe ich hautnah miterlebt, wie man auf staatlicher Seite mit ihnen umgegangen ist, das hat mich sehr beschämt. Es war von großer Empathielosigkeit geprägt, und ich habe mich gefragt, ob wir in Deutschland so etwas nicht besser können. Im Ausland, auch im unmittelbaren europäischen Ausland, etwa in Frankreich, ist eine andere Würdigung der Betroffenen sichtbar geworden.
Wie lange haben Sie für die Stoffentwicklung gebraucht?
Insgesamt waren es wohl sieben bis acht Jahre. Etwas in mir sagte: Ich will und muss diese Geschichte erzählen. Sie ist so groß und wichtig. Auch aus Verantwortung gegenüber den Angehörigen und ihren Schicksalen. Schließlich konnte ich dann den Produzenten Christian Drewing von der Produktionsfirma Eikon von meinem Vorhaben überzeugen, und wir haben die Geschichte breiter aufgestellt und auch die Hintergründe des Attentats mit einbezogen. Wir konnten recht schnell 3sat als Sender gewinnen, und bekamen auch Fördergelder von dem Medienboard Berlin-Brandenburg und der MFG Baden-Württemberg.
In Ihrer Serie nimmt die Perspektive der Angehörigen einen großen Stellenwert ein. Wie gelang es Ihnen, sich diesen meist traumatisierten Menschen zu nähern?
Mit traumatisierten Protagonisten habe ich in einigen meiner Filme schon Berührung gehabt. Sei es bei "Zirkus is nich" mit einem vernachlässigten Kind mit Gewalterfahrung oder bei "Der innere Krieg", da geht es um traumatisierte US-Soldaten, die mit PTSD aus dem Irak und Afghanistan zurückkehrten.
Ich denke, ich habe viel Verständnis für Menschen, die traumatisiert sind. Und das spüren Protagonisten, wenn man sie ernst nimmt und sich für ihre Geschichte interessiert. Unser Interesse ging immer sehr tief in die persönlichen Schicksale und kratzte nicht bloß an der Oberfläche des Erlebten. Ich habe generell viel Zeit mit den Angehörigen verbracht, um gemeinschaftlich einen guten Umgang zu finden – da half mir meine Erfahrung aus den vorherigen Filmen sehr.
Sie stellen dem deutschen Publikum erstmals Betroffene aus dem Ausland vor, vor allem die Protagonistinnen aus Italien bringen eine neue Perspektive mit. Wie sind Sie auf diese beiden Frauen gestoßen?
Der Kontakt erfolgte über eine deutsche Angehörige, Astrid Passin hatte mir von Giovanna di Lorenzo, die ihre Tochter verloren hatte, erzählt und wir nahmen zu ihr Kontakt auf. Dann stießen wir noch auf Elisabetta, die den Anschlag überlebte und aus Palermo stammt. Der Ort, an dem auh Amri im Gefängnis saß.
Insbesondere mit Giovanna haben wir oft gesprochen, um unseren sehr gewissenhaften Umgang zu erklären. Es war das erste Mal überhaupt, dass sie mit der Presse gesprochen hat.
Dazu konnten wir auch mit einem Staatsanwalt sprechen, der Amri noch aus seiner Zeit im italienischen Gefängnis kannte und einem Mailänder Polizeioffizier, in dessen Zuständigkeitsbereich die Wache gewesen ist, die Amri gefasst und getötet hat. Beides sehr wichtige Perspektiven, die wir unbedingt dem deutschen Publikum zeigen wollten.
Warum haben Sie sich für eine serielle Erzählweise entschieden und nicht für einen Einteiler?
Ursprünglich hatte ich die Geschichte als Einzelstück erdacht, aber wir haben sie dann dramaturgisch zu einer seriellen Erzählung entwickelt, die den einzelnen Ebenen und Geschichten den nötigen erzählerischen Raum geben konnte.
Wir wollten auch Experten, Politiker vom Untersuchungsausschuss, Investigativjournalisten und das BKA zu Wort kommen lassen. Und diese zwei Ebenen, die der Angehörigen und Überlebenden sowie die informative Ebene in ihrer Wechselwirkung zeigen.
Es war ein langer Prozess, ein Konzept zu entwickeln, das insbesondere auch den Betroffenen gerecht wird. Nach jahrelanger Arbeit konnten wir diese besondere Geschichte umsetzen.
Das Interview führte Nicole Baum
Die Filmemacherin Astrid Schult lebt in Berlin und ist Absolventin der Filmakademie Baden-Württemberg. Für das ZDF hat sie mehrere fiktionale Fernsehspiele realisiert. Für ihre Langzeitdokumentation "Zirkus is nich" ist sie 2024 mit dem DRK-Medienpreis ausgezeichnet worden. 2020 war sie für die ZDF-Interview-Reihe "FilmFrauen" für den Grimme-Preis nominiert. Für den Dokumentarfilm "Der innere Krieg" erhielt sie bereits 2008 eine Grimme-Preis-Nominierung sowie das Eberhard-Fechner-Stipendium des Grimme-Instituts.
Hauptabteilung Kommunikation
Dr. Britta Schröder, Maja Tripkovicschroeder.bwhatever@zdf.de; tripkovic.mwhatever@zdf.de
Mainz, 24. Oktober 2025