Deutschlandlieder einmal anders: Nedim Hazar am Akkordeon mit dem alevitischen Frauenchor aus Königswinter / Copyright: ZDF/Jörg Gruber

"Unser Vorbild war Buena Vista Social Club": Interview mit Regisseur und Musiker Nedim Hazar

3sat zeigt den Dokumentarfilm "Deutschlandlieder - Almanya Türküleri" am Samstag, 28. Oktober 2023, um 20.15 Uhr in Erstausstrahlung

"Deutschlandlieder - Almanya Türküleri" (Deutschland 2023) von Nedim Hazar ist eine von fünf Sendungen, die 3sat zum 100. Jahrestag der Staatsgründung der Türkei am 29. Oktober ausstrahlt. Das 3sat-Programm zu "100 Jahre Republik Türkei" finden Sie unten.

Dokumentarfilm
Interview

In ihrem Film blicken Sie auf rund 60 Jahre Lieder von Türkeistämmigen in Deutschland zurück. Was waren die Kriterien für die Auswahl?

Die Songs sollten einerseits die Ereignisse der Zeit widerspiegeln, in denen sie entstanden. Andererseits sollten sie möglichst von ihren ursprünglichen Interpretinnen und Interpreten live vorgetragen werden. Zum Beispiel: "Guten Morgen Maystero" ist ein Lied von Metin Türköz, das 1973 veröffentlicht wurde, im selben Jahr wie der berühmt-berüchtigte Türkenstreik bei Ford in Köln. Türköz gilt als der erste türkische Barde in Deutschland. Zu der Zeit arbeitete er selbst bei Ford. Sein Stück beschreibt die erschwerten Arbeitsbedingungen, denen die einstigen Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen ausgesetzt waren.

Dieses Schema konnten wir mehr oder weniger bis in die 90er-Jahre beibehalten. Mehr oder weniger, sage ich, weil einige Solistinnen und Solisten sich zu alt fühlten, um wieder aufzutreten oder gestorben waren. Der Tod begleitete uns vom Anfang an. Der Volkssänger Derdiyoklar Ali zum Beispiel starb kurz vor Konzert- und Drehbeginn. Der eben erwähnte Türköz, wenige Monate nach Drehschluss. Er wurde 85 Jahre alt.

Für Songs, die uns dennoch unverzichtbar schienen, zum Beispiel "Çok Yorgunum – Ich bin  sehr müde" des verstorbenen Rocksängers Cem Karaca, ein Stück in dem das Schicksal der politischen Exilanten und Exilantinnen der 1980er-Jahre thematisiert, fanden wir zum Glück eine Interpretin wie Sema Moritz, die in derselben Zeit tatsächlich vom damaligen türkischen Militärregime nach Deutschland geflüchtet war.

In der Songauswahl aus den Nuller und Zehner Jahren geht es mehr um Gefühlslagen als konkrete Ereignisse, wie ein würdevolles Leben in der Familie und in der Gesellschaft zum Beispiel.

 

Sie sind nicht nur Regisseur, sondern auch Musiker und Teil des Ensembles. Wie kamen sie mit dieser Mehrfachrolle zurecht?

Unser Vorbild war Buena Vista Social Club. Man assoziiert damit als erstes Wim Wenders, den Regisseur des Dokumentarfilms – übrigens ein Idol von mir. Aber auch der amerikanische Gitarrist Ry Cooder spielte dabei eine wesentliche Rolle. Zusammen mit einem kubanischen Kollegen suchte er die Musiker aus, produzierte das legendäre Album und spielte sogar in der Band mit. Als ich Ry in den 1990er-Jahren begegnete, stellte ich ihm eine ähnliche Frage über Multi-Tasking, worauf er bescheiden aber schmunzelnd antwortete: "You just keep cool".

Ich wünschte mir viel mehr von Rys Ruhe bei der Arbeit. Ich hatte Jörg Gruber, einen hervorragenden Kameramann an meiner Seite. Produzent Mustafa Dok war oft vor Ort. Die Leitung und damit die Last des Ensembles teilte ich mit dem Arrangeur Ruddi Sodemann. Ich war dennoch äußerst aufgeregt während der Konzerte, die übrigens teilweise unter Pandemie-Einschränkungen stattfanden. Angesichts der knappen Finanzierung betrachte ich es im Nachhinein als ein halbes Wunder, dass alles gut ging.

Meine Rolle vor der Kamera kam mir jedoch selbstverständlich vor. In früheren Zeiten stand ich über zehn Jahre als professioneller Musiker auf internationalen Bühnen und habe auch im Radio und Fernsehen moderiert. Also Scheu hatte ich nicht. Und im Übrigen gehöre ich selbst zu den authentischen Protagonisten aus der Zeit. Mit meiner Rockband Yarinistan sang auch ich "Deutschlandlieder". Damit kamen wir sogar in die Charts in den spät 80ern.

 

Höhepunkt der Tournee ist eine Einladung in die Türkei. Was war das Besondere an diesem Auftritt?

Wir wurden 2021 als Höhepunkt einer Veranstaltungsreihe des deutschen Konsulats, des Goethe-Instituts und des Istanbuler Oberbürgermeisters anlässlich des 60. Jahrestags des Anwerbeabkommens zwischen beiden Ländern eingeladen. Das war eine besondere Ehre für uns Musiker in einem begehrten Istanbuler Saal aufzutreten. Die überwiegende Mehrheit des 25-köpfigen Ensembles, auch die mit türkischen Wurzeln, trat zum ersten Mal in der Türkei auf.

Einige Deutschland-Rückkehrer im Publikum kannten das eine oder andere Stück aus dem Repertoire noch von früher. Aber im Allgemeinen waren unsere "Deutschlandlieder" wie ein Kulturschock für die Istanbuler Zuschauer: Da sangen Leute auf der Bühne in der gewohnt anatolischen Aşık-Tradition, allerdings in einer für ihre Hörgewohnheiten völlig fremden Sprache, nämlich Deutsch.

Unmittelbar vor dem Istanbul Konzert war außerdem noch eine akute diplomatische Krise zwischen beiden Ländern eingetreten. Und da der Film, wie auch die Konzerte, zum Teil vom Auswärtigen Amt Deutschlands gefördert worden waren, schien das gesamte Gastspiel zu platzen. Erst wenige Tage vor dem Konzert haben die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vom Auswärtigen Amt und wir dann doch gemeinsam entschieden,  nach Istanbul zu fliegen und zu spielen. "You just keep cool".

 

"Deutschlandlieder" feierte beim Filmfestival in Istanbul seine Weltpremiere. Wie kam der Film dort an?

Wir merkten, dass die Zuschauer ziemlich berührt waren. Die 60-jährige Reise der Türkeistämmigen in Deutschland war für viele, vor allem für das anwesende junge Publikum neu. Aber sie sind mitgegangen. Sie haben verstanden, dass da ihre Verwandten, ihre Landsleute doch nicht bloße "Gurbetçi" (die, die in der Fremde) sind, auftreten. Aber auch, dass da längst eine neue Kultur und folglich eine neue Musik entstanden ist, die zwar irgendwie einem nicht ganz so fremd vorkommt, dennoch aber anders klingt und auch anders ist.

 

Die Fragen stellte Nicole Baum/HR Internationale Fiktion

 

Foto zum Film finden Sie hier.

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Claudia Hustedt
hustedt.cwhatever@zdf.de
Mainz, 18. September 2023