"Kunst ist nicht Kommentar zu den laufenden Ereignissen, sondern ein eigener Denk- und Wirklichkeitsraum."
Mainzer Stadtschreiberin 2024: Julia Schoch im Interview
Der Mainzer Stadtschreiber Literaturpreis des ZDF, 3sat und der Landeshauptstadt Mainz wird zum 39. Mal verliehen. Die in Potsdam lebende Schriftstellerin Julia Schoch erhält die Auszeichnung und wird Mainzer Stadtschreiberin des Jahres 2024.
Die Preisverleihung findet am Freitag, 22. März, ab 11.00 Uhr, im Leibniz-Zentrum für Archäologie (LEIZA) Mainz statt.
Frau Schoch, für Ihr literarisches Werk haben Sie viele Preise bekommen und waren auch schon Stadtschreiberin zu Rheinsberg und in Dresden. Was verbinden Sie mit dem Amt der Stadtschreiberin? Früher sollte eine der Aufgaben sein, die Menschen fortzubilden.
Wenn es gut läuft, gibt das "Amt" sowohl der Autorin als auch dem Publikum Gelegenheit, Beziehungen entstehen zu lassen, die tiefgründiger und langlebiger sind als normale Lesungsaufenthalte. Man darf allerdings nicht erwarten, dass sowas sofort und garantiert passiert. Beziehungen und ihre Wirkung lassen sich nicht prompt abrechnen. Ich persönlich brauche oft lange, ungefähr sieben Jahre, bis ich merke, inwiefern ein Ort mich beeinflusst oder berührt hat. Was Mainz betrifft, habe ich vor, die Stadt auf eine gelassene Weise zu entdecken, das heißt nicht wie eine Touristin. Alltag, Wiederholungen, Gewohnheiten, ich habe ja ein bisschen Zeit, der Gedanke beruhigt mich … Ich werde mehrere Lesungen vor Ort machen, an der Uni einen Schreibkurs veranstalten, und auch in dem Film, den ich mit dem ZDF drehen darf, werde ich die Stadt auf eine spezielle Weise vorkommen lassen. Wenn der eine oder andere dadurch angeregt wird, wenn es die Menschen für Momente wach macht oder nachdenklich oder beseelt, wäre schon alles gewonnen.
Die Jury des Literaturpreises beschreibt Sie als eine von der Kritik hoch gelobte prominente Schriftstellerin der jüngeren Generation, die einen ganz eigenen Ton in die deutschsprachige Literatur bringt und in ihren Romanen die Sehnsüchte unserer Zeit nach Zugehörigkeit in besonderer Weise beschreibt. Wie würden Sie Ihr Anliegen und die Themen Ihrer Bücher für diejenigen zusammenfassen, die die neue Stadtschreiberin jetzt erst kennenlernen?
Mein Anliegen ist es, einzelne Wörter präzise, klar und wahrhaftig aneinanderzureihen, sodass ein Sinnzusammenhang entsteht. Mein Thema ist meine Existenz. Ich begleite sie schreibend und erschaffe dabei zugleich etwas Neues. Schreiben heißt verwandeln, eine Wirklichkeit errichten. Dabei kommen menschliche Beziehungen in den Blick, das Erinnern und seine Veränderlichkeit, unsere Epoche, das Nachwirken geschichtlicher Ereignisse in meiner Biografie, die Liebe oder ihre Abwesenheit, das Schreiben selbst, das Verstreichen der Zeit. Im Übrigen freue ich mich, dass ich noch immer zur "jüngeren Generation" gerechnet werde.
Der Literaturpreis von ZDF, 3sat und der Stadt Mainz wird auch vergeben, um das Zusammenwirken von Literatur und Fernsehen zu fördern. Was könnte Ihrer Meinung nach unternommen werden, um diese Verbindung auszubauen?
Wenn tatsächlich ein Interesse besteht, diese Verbindung auszubauen, würde ich sagen: Literatur beziehungsweise Kunst könnte selbstverständlicher und häufiger vorkommen, ob kurz oder lang, ästhetisch verrückt oder eher gediegen. Künstler sollten dafür nicht in spezielle Senderäume wie Kultursendungen verbannt werden. Gerade weil Kunst herkömmliche Logiken verlässt oder einfache Brücken schlägt, die üblicherweise als kompliziert suggeriert werden (und umgekehrt), weil Literaten gedanklich und sprachlich eben nicht die üblichen Hülsen benutzen, sollte ihre Sicht auch in anderen Zusammenhängen erlebbar werden. Diese Art von Osmose würde den Stellenwert von Literatur gleichsam nebenbei verändern. Das stelle ich mir überraschend und bereichernd vor. Zudem glaube ich, es ist müßig, den Moden hinterherlaufen zu wollen, das heißt, nach Formaten zu suchen, die "die jungen Leute ansprechen" oder Ähnliches. Da kommt man immer zu spät. Selbstbewusst eine eigene ästhetische Fernseh-Linie kreieren.
Wenn man die Geschwindigkeit, die Literatur hat, zulässt, können magische Momente entstehen. Keine Angst vor längeren Gesprächen. Großartig fände ich ausführliche Interviews mit SchriftstellerInnen anstatt ästhetisch immergleiche Kurz-Porträts oder zusammengestückelte Statements zu einem Thema innerhalb einer Sendung. Bei Lesungen hören oft mehrere hundert Leute stundenlang auf harten Stühlen gebannt zu, obwohl es äußerlich eher karg zugeht: Tisch, Mensch, Wasserglas. Auf diese Bereitschaft dürfen wir uns verlassen. Gefilmte Lesungen an ganz unterschiedlichen Orten wären eine schöne Idee, in großen Literaturhäusern wie auch in kleinen Buchhandlungen, wo oft grandiose Dinge passieren. Da kämen auch die Zuschauer zu Wort. Außerdem merken die Leute, ob jemand für Bücher Leidenschaft empfindet oder nicht. Es gibt sehr viele Literaturbegeisterte in diesem Land, denen ich auf meinen Lesungen begegne, Lesekreise, fantastische Veranstalter und Buchhändler, die sehr gut moderieren und diskutieren können, die sich auskennen. Auch denen könnte man hin und wieder eine Bühne bieten.
Darüber hinaus müssten die Redaktionen aufhören, die Literatur als Anreger für Debatten zu benutzen – als wäre ein literarischer Roman bloß die Veranschaulichung eines aktuellen gesellschaftspolitischen Geschehens. Kunst ist nicht Kommentar zu den laufenden Ereignissen, sondern ein eigener Denk- und Wirklichkeitsraum. Der ist weder exotisch noch eskapistisch. Und noch etwas: Da sich das Fernsehverhalten grundlegend verändert hat, sehr viele Menschen kaum mehr ins laufende Programm schalten, sind übersichtliche und gut zugängliche Mediatheken inzwischen das Wesentliche. Es wäre zum Beispiel ganz wunderbar, wenn man die Möglichkeit hätte, sämtliche Filme zu sehen, die die bisherigen Mainzer Stadtschreiber gedreht haben, gerade die frühen. Das fände ich großartig.
Mehr Informationen zum Literaturpreis des ZDF, 3sat und der Stadt Mainz.
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Mainz, 12. März 2024